Kinderpsychiater-Kongress: Heranwachsende ADHS-Patienten unterversorgt

ADHS-Kosten (Krankenkassendaten)

(Mannheim). Die Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) bleibt ein herausforderndes Thema, wie sich bei vielen Vorträgen und Diskussionen während des diesjährigen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Mannheim zeigte [1]. Zunehmend in den Fokus rücken dabei die heranwachsenden und erwachsenen Patienten mit ADHS, die die Gesundheitsversorgung vor besondere Herausforderungen stellen. Eines der ungelösten Hauptprobleme ist die fehlende Weiterbehandlung vieler – behandlungsbedürftiger – ADHS-Patienten nach dem Erreichen der Volljährigkeit.

ADHS verschwindet im Erwachsenenalter nicht auf „wundersame“ Weise

„Als Kinder- und Jugendpsychiater brauchen wir dringend Kolleginnen und Kollegen, die unsere vielen Patienten mit Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) nach dem Jugendalter weiterbehandeln. Allerdings gibt es immer wieder große Probleme, überhaupt Psychiater zu finden, die dazu bereit oder fachlich in der Lage sind, selbst in Großstädten wie Berlin“, fasste der Berliner Kinderarzt und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Prof. Dr. Peter Greven eines der Hauptprobleme beim Übergang von ADHS-Patienten ins Erwachsenenalter („Transition“) zusammen. Wissenschaftlich sei heute klar, dass die ADHS mit dem Erwachsenwerden nicht auf „wundersame“ Weise verschwinde. Vielmehr zeige die stark absinkende Zahl von ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen oder die erhebliche Abnahme von Medikamenten-Verordnungen eine klare Versorgungslücke an. Diese Unterversorgung führe bei nicht behandelten ADHS-Patienten vermehrt zu Begleiterkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Drogenmissbrauch oder anderen Problemen. Und dies vermehre nicht nur persönliches Leid, sondern steigere auch die Behandlungskosten [2]. Um diese Unterversorgung zukünftig zu vermeiden, so forderte Greven, sind zum einen vermehrte Aufklärung und Weiterbildung bei Erwachsenenbehandlern nötig. Zum anderen müssten gesundheitsökonomische Versorgungsstrukturen so verändert werden, dass – entsprechend der individuellen Bedürfnisse von heranwachsenden und erwachsenen ADHS-Patienten – eine Weiterbehandlung für z. B. Psychiater, qualifizierte Neurologen oder Hausärzte problemlos möglich wird.

Therapieziel: Anpassung oder individuelle Entfaltung und hohe Lebensqualität?

Die vielfach beklagten Probleme von Patienten mit Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) während ihrer Transition ins Erwachsenenalter, so betonte der Kinder- und Jugendpsychiater und Kinderarzt Dr. Jürgen Fleischmann, Sinzig, hängen auch wesentlich von den Zielsetzungen einer ADHS-Therapie ab. So könne man leider oft den Eindruck gewinnen, es ginge vor allem darum, dass Menschen mit ADHS ihr Umfeld nicht stören sollen (fremdbestimmte Verhaltens-Anpassung). Eine Auffassung, die einem auch in neuesten Behandlungs-Richtlinien zur ADHS begegnet [3], so Fleischmann. Aus seiner Sicht sei es allerdings viel wichtiger, dass Betroffene mit all ihren individuellen Eigenschaften durch einschränkende ADHS-Symptome nicht in ihrer persönlichen Entwicklung oder ihrem täglichen Leben gestört werden. Versteht man Erwachsenwerden als Wachstumsprozess, dann wird klar, so der ADHS-Experte, dass dies nicht von heute auf morgen geht und dass die medizinische ADHS-Therapie der Arbeit eines Gärtners entsprechen sollte, der junge Pflanzen bei ihrem natürlichen, „selbstbestimmten“ Wachstum betreut. Das eigentliche Therapieziel sei eben nicht die isolierte Reduktion von Symptom-Ausprägungen in irgendwelchen Rating-Scales, sondern die ganzheitliche Verbesserung der Lebensqualität. Im Gegensatz zur oft ablehnend eingeschätzten Rolle der Stimulantien-Therapie stellte Fleischmann fest, dass diese Mittel, wenn sie qualifiziert und kontrolliert eingesetzt werden, das Entwicklungspotential von ADHS-Betroffene erheblich verbessern, weil sie sie bei der Umsetzung individueller Zielsetzungen unterstützen – z. B. dem Erreichen von Ausbildungszielen. Stimulantien könnten bei Patienten wie eine „Brille“ wirken, die das Fokussieren auf die eigenen Lebensnotwendigkeiten ermöglicht.

Therapiegespräche eher wie ein „Kampf“ oder ein „Tanz“?

Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, LWL-Uniklinik Hamm, beschäftigte sich mit notwendigen Verhaltensänderungen von Therapeuten als Grundlage erfolgreicher Behandlung von ADHS-Patienten mit neuen Therapiekonzepten. Beispielsweise mit der „motivierenden Gesprächsführung“, die erst vor knapp 20 Jahren im Umfeld der Suchttherapie entstanden ist. Sie ist bei gezielter Beratung von Patienten darauf ausgerichtet, eine eigenständige Motivation zur Verhaltensänderung bei den Patienten aufzubauen. Die Therapeuten versuchen dabei, so Holtmann, ohne ihre Patienten mit irgendwelchen z. B. „fachlich begründeten“ Aussagen hart zu konfrontieren, die oft vorhandenen Zwiespältigkeiten ihrer Patienten bewusst zu machen („ich nehme mein Mittel nicht weiter!“ ~ „ich will meine Ausbildung erfolgreich abschließen“) und so allmählich aufzulösen. Viele Therapeuten müssten allerdings erheblich umlernen, um solche modernen Behandlungsansätze realisieren zu können. Beispielsweise hinsichtlich der Frage nach der „Therapiefähigkeit“ von ADHS-Patienten. Anders als viele Therapeuten annehmen, sei nämlich eine dauerhafte Verhaltensänderung nicht Voraussetzung, sondern ein wesentlicher Teil der Behandlung. Auch das „Besserwissen“ vieler Therapeuten sei zu hinterfragen, da dauerhafte Verhaltensänderungen weitaus wahrscheinlicher eintreten, wenn Patienten sich selbst überzeugen und nicht in Verteidigungshaltung sind. Holtmann zitierte in diesem Zusammenhang den Schweizer Schriftsteller Max Frisch: „Man sollte dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, dass er hinein schlüpfen kann, und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen“ [4]. Die eigenen Gespräche mit Patienten, so Holtmann weiter, sollten immer wieder neu überprüft werden. Wichtige Fragen seien beispielsweise:
• Verlaufen die Gespräche eher wie ein „Kampf“ zwischen Patient und mir ab, oder eher wie ein „Tanz“? (Fremdbestimmung~Selbstbestimmung)
• Wer hat die Hauptanstrengung im Gespräch getragen?
• Wie viel Gesprächszeit lasse ich meinen Patienten?
Ganz lebenspraktische Tipps an Therapeuten lauten Holtmann zufolge:
• Sprich weniger als der Patient (verwende offene Fragen)
• Lobe Fortschritte, die Patienten machen
• Benutze nicht „aber“ (entweder~oder), sondern „gleichzeitig“ (sowohl~als auch)
• Frage um Erlaubnis, bevor Du informierst.
Holtmann betonte, dass Grundprinzipien der motivierenden Gesprächsführung auch viele andere Ärzte und Therapeuten betreffen (sollten). Gerade weil eine erfolgreiche Behandlung vieler Erkrankungsbilder dringend Patienten erfordert, die zu Verhaltensänderungen bereit sind, z. B. bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes.

Autor
Rainer H. Bubenzer, Berlin, 20. Mai 2019.
Bildnachweis
nach [2]. Die Infografik ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 international (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/) by CoCA (www.coca-project.eu).
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Quellen
[1] Symposium „Lost in transition – (K)einen Schritt weiter?“. Veranstalter: MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co KG, 11.4.2019. Im Rahmen des „XXXVI. DGKJP Kongressses“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V., 10.-13.4.2019, Mannheim.
[2] Libutzki B, Ludwig S, May M, Jacobsen RH, Reif A, Hartman CA: Direct medical costs of ADHD and its comorbid conditions on basis of a claims data analysis. Eur Psychiatry. 2019 Feb 22;58:38-44 (DOI | PMID).
[3] Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. (DGSPJ), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) ,Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN): Interdisziplinäre evidenz- und konsensbasierte (S3) Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“. Registrierungsnummer: 028-045, Entwicklungsstufe: S3 (Volltext).
[4] Max Frisch: Tagebuch 1966-1971. Suhrkamp, Frankfurt, 1979.

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